Interview für eine Schülerzeitung (*)

GB: Könnten sie uns Ihre Lebensgeschichte erzählen, damit wir Sie besser kennen lernen?

Ich wurde 1951 in einem Dorf in der Provinz Konya geboren. Um Geld zu verdienen, musste mein Vater nach dem Militärdienst in „Gurbet“, in die Fremde, gehen, weil sich die Großfamilie nicht von der Landwirtschaft ernähren konnte. Als er weg ging, war ich zwei Jahre alt. Meine Mutter musste den ganzen Tag schwer arbeiten. Daher wurde ich mehr von meinen beiden Omas betreut. Als ich sechs wurde, zogen wir, meine Mutter, ich, meine Schwester, zu meinem Vater nach Ankara. Das war der erste Bruch in meiner Biographie. Die Jahre im Dorf hinterließen in mir tiefe Spuren, die mein Ich prägten und sich in meinen literarischen Texten widerspiegeln.
Obwohl wir in einem armen Viertel wohnten, war in Ankara alles neu für mich. Das war ein echter Kulturschock. Ich wurde als “Dorfjunge” angepöbelt und schikaniert. Es dauerte einige Jahre, bis ich mich an das Stadtleben, an die städtische Kultur anpassen und mit der neuen Umwelt vertraut machen konnte.
Ich war durstig nach Wissen. Deshalb bin ich gerne zur Schule gegangen. Nach der Mittelschule (Ortaokul) besuchte ich das Gymnasium (Lise). Da habe ich die Literatur entdeckt und wurde eine Leseratte. In dieser Zeit versuchte ich neben Liebesgedichten und Liebesbriefen auch literarische Texte zu schreiben. Einige wurden in der Schülerzeitung veröffentlicht. Aber die meistens blieben in der Schublade versteckt.
Nach dem Abschluss des Gymnasiums im Jahr 1968 fing ich mit dem Studium an der Fakultät für Politische Wissenschaft an. Ich fand mich inmitten der damaligen Studentenbewegung. Wir kämpften für mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit, kurzum für eine bessere Welt. Durch einen Militärputsch wurde unser Kampf niedergeschlagen. Ich und viele andere Kommilitonen wurden verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt. Da hatte ich viel Zeit zu lesen und zu schreiben. Meine ersten ernsthaften literarischen Texte sind dort entstanden.
Trotz dieser schwierigen Zeit habe ich 1974 mein Studium als Diplom Betriebswirt beendet. Aber wie viele andere Kolleginnen und Kollegen auch bekam ich wegen unseren politischen Tätigkeiten eine Art “Einstellungsverbot”. Inzwischen war ich mit meiner Freundin von der Uni verlobt, und 1975 wir heirateten wir. Mit meiner Frau wollte ich nach Europa gehen und in Frankreich promovieren. Aber mir wurde kein Reisepass ausgestellt, und ich wurde zum Militärdienst einberufen. Nach der Militärschule versetzte man mich als Ersatzoffizier auf den türkischen Teil von Zypern, wo zwischen Türken und Griechen Kriegszustand herrschte.
Nach Beendigung meines Militärdienstes durfte ich 1977 einen Reisepass bekommen. Ich und meine Frau beschlossen nach Deutschland zu fahren, um ihre inzwischen dort lebenden Eltern zu besuchen und Europa zu sehen. Wegen einiger Umstände wurde aber unsere Rückkehr in die Türkei verhindert. Meine Frau wurde schwanger und wir bekamen ein Kind. Und so blieb ich in Deutschland, in Köln, und wurde selbst ein “Almanci”.
Deutschland war mein zweites “Gurbet” (Fremde) und der zweite Bruch in meiner Biographie. Ich konnte kein Wort Deutsch und hatte weder eine Aufenthalts- noch Arbeitserlaubnis. Das war so zu sagen die „Stunde null” für mich. Ich meldete mich an der Uni Köln an und lernte die Sprache. Meine Absicht war, zu promovieren. Wegen finanzieller Schwierigkeiten musste ich diese Absicht aufgeben und einen Job suchen. So bekam ich eine Stelle als „Muttersprachenlehrer“ für türkische Vorbereitungsklassen in Duisburg.
Nun bin ich seit fast 25 Jahren hier. Ich habe zwei Kinder, die hier geboren sind, ich habe hier ein Haus gebaut und im Garten einen Apfelbaum gepflanzt. Ich fahre jedes Jahr mindestens einmal in die Türkei. Dort sind meine Wurzeln, meine Verwandten, die Erinnerungen und Spuren meiner Kindheit bzw. meiner Jugend. Ich fühle mich weder dort noch hier fremd, aber auch nicht so ganz beheimatet. Daher gebe ich dem deutschen Dichter Christian Morgenstern recht. Er sagte nämlich: “Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.”

GB: Wie war Ihre erste Begegnung mit der deutschen Gesellschaft und Kultur?

Europa war für mich, wie für viele gebildete und intellektuelle Menschen in der Türkei, ein Vorbild von Fortschritt und Entwicklung. Mit dieser Vorstellung bin ich nach Deutschland gekommen. Dieses Bild stimmte mit dem realen Bild, mit der Wirklichkeit von Deutschland in vielen Punkten nicht überein. Das reale Bild war ganz anderes. Anderseits haben die direkte Begegnung mit der europäischen und deutschen Kultur und die Distanz zur türkischen Kultur mich dazu geführt, meine (türkische) Kultur kritisch betrachten zu können. Anders ausgedrückt: Ich musste mit vielen Widersprüchen fertig werden und mich mit meinen positiven und negativen Vorurteilen auseinandersetzen. Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass ich zwei Heimaten hatte.
Bis ich 1980 in Duisburg eine Lehrerstelle bekam, war die Zeit in Deutschland eine der schwierigsten Abschnitte meines Lebens. Und – literarisch gesehen – war es auch ein unproduktiver Zeitraum, in dem das Schweigen herrschte. Erst nachdem ich die existenzielle Sicherheit für mich und für meine Familie geschaffen hatte, konnte ich wieder schreiben. Es hatte sich vieles in mir angestaut. Ich hatte Lust und großen Drang zu schreiben. Das hat mich viele schlaflose Nächte gekostet.

GB: Was war der Anlass, dass Sie Gedichte über die “Fremde” geschrieben haben?

Als ich noch auf dem Gymnasium war, waren einige Verwandte von mir als “Gastarbeiter” nach Deutschland bzw. Belgien gegangen. Für viele Menschen war “Almanya Gurbeti” (die deutsche Fremde) eine neue Hoffnung bzw. Rettung. In der Geschichte der Türkei/Türken war es das erste Mal, dass Hunderttausende von Menschen als Arbeitskräfte über die Grenzen hinweg ins Ausland gingen. Es gab viele soziokulturelle Folgen für die alte und für die neue Heimat. Die Folgen, die ich von beiden Seiten aus beobachten konnte, waren nicht nur positiv. Es gab viele menschliche und gesellschaftliche Probleme. Ich hatte einen inneren Drang, dies schriftlich zu verarbeiten
Da ich zu der türkischen 68’er Generation gehörte, war – und bin – ich ein politisch denkender und sozial engagierter Mensch. Ich wollte den Menschen beistehen, die unter diesen Problemen litten, und mich mit den Menschen solidarisieren, die diese Probleme lösen bzw. etwas Positives daraus machen wollten. Vielleicht wollte für die Lösung dieser Probleme einen bescheidenen Beitrag leisten, indem ich über “Gurbet” schrieb. Meiner Meinung nach trägt jeder, der für die Öffentlichkeit schreibt, ein gewisses Maß an Verantwortung.

GB: Wie ist Ihr zweisprachiger Gedichtband „Gurbet İkilemi /Dilemma der Fremde“ entstanden?

Ich schreibe darüber, was mich bewegt, was mich ärgert, was mir Sorgen oder aber auch Freude und Hoffnung macht. Mein eigenes Leben und das Leben meiner Landsleute in der neuen “bitteren Heimat” (Aci Vatan Almanya) waren für mich eine fruchtbare Schreibquelle.”Gurbet Ikilemi”- “Dilemma der Fremde” ist mein erster Gedichtband. Er kam am Anfang 1986 heraus und beinhaltet die lyrischen und epischen Gedichte, die sich mit “Gurbet” (Fremde) und “Vatan” (Heimat) auseinandersetzen. Almanya war nicht mit dem traditionellen “Gurbet” zu vergleichen. Bis dahin bedeutete für die Türken “Gurbet”, für eine bestimmte Zeit nach Istanbul, Ankara oder Izmir zu gehen um Geld zu verdienen. Nun wanderten sie aber von einem Kontinent (Asien) zu einem anderen Kontinent (Europa); und damit zu einem fremden Land, zu einer fremden Kultur, zu einer fremden Sprache. Um darüber schreiben zu können, brauchte man eine neue Sprache, neue Metaphern und Symbolen. Mit meinen Gedichten wollte ich zwischen den “Fremden” (meine Landsleute) und den Einheimischen (die Deutschen) eine Brücke bauen und auf den beiden Seiten Verständnis und Toleranz fördern

GB: War es für Sie schwer, Ihre eigenen Gedichte ins Deutsche zu übertragen?

Trotz meiner Mühe auch für die deutschen Leser verständlich zu schreiben war die Übersetzung meiner Texte ins Deutsche nicht so einfach, weil die Sprache eigentlich mit Kultur zusammen hängt und die beiden Sprachen nicht miteinander verwandt sind. Das bedeutete, dass ich für viele Bilder, Redewendungen, Wörter meiner Texte keine gleichbedeutenden Synonyme in der deutschen Kultur bzw. Sprache fand. Darüber hinaus konnte ich den Rhythmus und Klang im türkischen Original nicht in Deutsch wiedergeben. Das heißt, meine Texte in Türkisch ließen sich nur sinngemäß übersetzen. Die deutschen Leser können also höchstens die “Kehrseite des Teppichs” sehen.

GB: Was können Sie uns, Schüler*innen mit türkischen Migrationshintergrund, raten?

Der Idealfall für Euch wäre es, wenn ihr euch in beiden Kulturen zu Hausen fühlen würdet. Ich weiß aber, dass das nicht so einfach ist. Dafür fehlen viele Voraussetzungen. Die Vorurteile auf beiden Seiten, die Unterschiede zwischen beiden Kulturen, Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung von der deutschen Seite erschweren den “nicht-deutschen Jugendlichen”, sich in beiden Kulturen zu Hause und geborgen zu fühlen. Trotz alledem kann man als Individuum einen Lösungsweg suchen und finden. Um diesen Weg zu finden, sollte man sich darüber Gedanken machen und einiges ganz klar sehen:
Das Leben bzw. Aufwachsen in zwei Kulturen bringt sicherlich Probleme mit sich, aber auch viele Möglichkeiten sich zu entfalten und ein neues “Ich”, eine neue Identität zu entwickeln, die unserer Zeit und unserer Welt entspricht. Die Menschen, die nur in einer Kultur, mit einer Sprache aufwachsen sind “ärmer” als die Menschen, die in kultureller Vielfalt und mit zwei oder mehr Sprachen aufwachsen. Die Türken sagen: „Her lisan bir insandir“, sinngemäß heißt das: Jede Sprache ist ein anderer Mensch. Ich möchte dies ein bisschen konkretisieren: Deutsche und türkische Kultur sind zwei große Kulturen. Deutsche und türkische Sprache gehören zu den viel gesprochenen Sprachen der Welt. Wenn man in beiden Kulturen und Sprachen zu Hause ist, dann hat man mehr Zukunftsperspektiven, mehr Chancen und Optionen als all die anderen, die nur “deutsch” oder nur “türkisch” sind. Das bedeutet für euch, dass ihr beide Sprachen beherrschen, euch in beiden Kultur auskennen und euch von ihnen das “Gute’ aneignen sollt. Ich wünsche mir als Vater und Lehrer, dass meine eigenen Kinder und meine Schüler und Schülerinnen überall auf der Welt sich zurechtfinden und sich nicht “fremd” fühlen.

Mai 2002
*) Durchgeführt von Gymnasiastin Gülbiye Bindal

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