Der Duisburger Dichter und Lehrer Mevlüt Âsar verweist auf den Kulturschock, den die ersten angekommenen Männer aus der Türkei erlebten: »Frauen in Nachkriegsdeutschland hatten andere Erfahrungen hinter sich. Sie hatten die Stunde Null erlebt. Sie beteiligten sich an dem Wiederaufbau des Landes, oft als Witwen oder als junge Frauen. 1968 brachte die Befreiung der Liebe. Die Männer, die in den 196oer-Jahren hierherkamen dagegen, sie stammten oft aus ländlichen Gebieten – aus Dörfern, in denen Frauen bedeckt in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Nicht selten haben junge türkische Männer Körperteile des weiblichen Geschlechts erst in Deutschland gesehen.«
Laut Âsar endeten interkulturelle Romanzen, die anfangs entstanden, meistens schmerzlich. »Ich rede nicht von jüngeren Generationen, die hier aufgewachsen und mit der deutschen Kultur vertraut sind. Da gibt es nur dann Probleme, wenn die Familien sich in die Verbindung einmischen. Frühere Liebesbeziehungen fingen leidenschaftlich an – so leidenschaftlich, dass die Literatur sich damit auseinandersetzte. Doch später führten die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründe und das ungleiche Verständnis von Liebe zu Problemen, wenn nicht zu Tragödien. Es gibt eine schöne deutsche Redewendung, die nicht nur für Ehen gilt: >Liebe macht blind. Wer aber verheiratet ist, kann plötzlich wieder sehen!<« In seinem Gedicht »Rita« aus dem Jahr 1986 schreibt Mevlüt Âsar über eine unerfüllte Liebe dreier Männer.
Rita
Rita arbeitet in der Bar an der Ecke
Ihre Augen sprechen Italienisch
Ihr Busen Griechisch
Ihre Hüften Türkisch
Ihre Lippen sprechen Deutsch
Sandro, Dimitris und ich
Wir drei Männer vom Mittelmeer
Alle sind in Kellnerin Rita
– Sie ist honigblond –
Bis über beide Ohren verliebt
Rita schenkt Schnaps aus
Flirtet mit jedem von uns zugleich
Uns gibt sie unechtes Lachen
Aber Hans einen wahren Kuss
Draußen regnet es Bindfäden
In uns weht ein warmer Südwind
In unseren Herzen sprudeln Sirtakis
Und Rita wünscht sich einen Tango
Es ist zwölf Uhr nachts
Meine Frau wartet jetzt sicher am Fenster
(Aus “Dilemma der Fremde”, Ortadogu Verlag, 1986 Oberhausen)
Nicht nur südländische Männer waren von Asars Frauenfiguren angetan: »Vor mehreren Jahren schrieb ich eine Kurzgeschichte über einen One-Night-Stand zwischen einer Amnesty-International-Aktivistin namens Helga und einem türkischen Gewerkschafter, der in Deutschland Asyl beantragt hatte. Als die Geschichte veröffentlicht wurde, kontaktierte mich die Duisburger Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Nach dem Interview fragte mich der Journalist, wer Helga in Wirklichkeit sei. Natürlich war sie, wie Rita, eine fiktive Figur. Und es war gut, dass das ein One-Night-Stand war, sonst wäre alles viel komplizierter gewesen.«
*) aus „Deutsch-Landlieder / Almanya Türküleri”, Nedim Hazar, Rotbuch Verlag, 2021